Mediale Meinungsverzerrung

Gefühlte Realität versus Tatsachen


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Heute findet ein bedeutsamer Teil der Meinungsbildung in sozialen Medien, Foren und Plattformen statt, einst als „Mitmach-Internet“ oder „Internet 2.0“ bezeichnet. Bisweilen zweifelt man dort an seinen Mitmenschen. Hat das noch etwas mit dem Leben „da draußen“ zu tun? Man könnte meinen, es handle sich um Paralleluniversen oder ideologiebefeuerte Echokammern, so sehr fallen die realen Lebensumstände und die „Internet-Wirklichkeit“ auseinander. Wer genauer hinschaut, entdeckt jedoch immer wiederkehrende Muster.

So ist die Zahl der Foristen und Social-Media-Kommentatoren überschaubar. Es sind regelhaft dieselben, die sich zu Wort melden, oft unabhängig vom Thema. Das gilt für kleine Foren- und Lesergruppen genauso wie für Massenmedien à la „Spiegel“, „Welt“, „Zeit“ und Co. Demzufolge ist mitnichten eine Repräsentativität gegeben, der „Bias“ bzw. Verzerrungseffekt ist enorm. Entsprechend fällt gerne mal die politische Schlagseite aus.

Vergessen wir nicht, dass den thematischen Taktstock die jeweiligen Medien schwingen. Je nach Themensetzung und Konnotation der Artikel lassen sich, teils Pawlowschen Hunden gleich, die gewünschten Reflexe auslösen. Damit lässt sich heute trefflich spielen, wenn man es darauf anlegt, und ernsthafte, teils gefährliche Lobbypolitik betreiben.

Was trotzdem an Kommentaren nicht passend ist, wird passend gemacht. Insbesondere die bekannten Massenmedien haben hochentwickelte Systeme der Filterung und Zensur entwickelt. Bei den einen hinterlässt ein „Gelöscht wegen …“ immerhin eine Leerstelle und insoweit eine Vorstellung von der Gesamtzahl der Beiträge. In anderen Fällen kommen Beiträge erst gar nicht durch, verschwinden also rückstandsfrei ohne Begründung im digitalen Nirwana. Das ist die gefährlichere Variante. Rechtlich ist es nicht zu beanstanden, hat doch der jeweilige Forenbetreiber eine Art „digitales Hausrecht“ und darüber hinaus eine ganze Reihe weiterer Verpflichtungen, um nicht selbst angreifbar zu werden, falls er kritiklos alles stehen ließe.

Ähnliche Problematiken ergeben sich, mit weitaus größerer Wirkmacht, in den sozialen Medien. Die digitalen „Agitprop“-Maschinen (von „Agitation“ und „Propaganda“) laufen auf Hochtouren, wie wir nicht erst seit dem amerikanischen Wahlkampf wissen.

Nun sind diese Phänomene nicht neu. Früher hat eine linke oder eben rechte Zeitung auch nicht jeden Leserbrief abgedruckt, der ihr zugesandt wurde. Und natürlich schafft es nur ein Bruchteil der unübersehbaren Vielfalt an Nachrichten mehr oder minder gefiltert überhaupt in die Druckerpresse. Selektion ist also nicht neu und auch nötig.

Neu ist allerdings die Konzentration in der Digitalwelt. Während die Pressewelt von einer großen Vielfalt gekennzeichnet ist, wird die digitale Welt von wenigen „Big Playern“ beherrscht. „The winner takes it all“ ist das Motto. Wie viele soziale Medien mit einer nennenswerten Reichweite gibt es? Entsprechende Regeln der Betreiber oder Eingriffe von Behörden haben hier eine ganz andere Tragweite als die Verlagspolitik einzelner Presseorgane.

Was tun? Mehr denn je sind die souveräne Übersicht über die und die nüchterne Gewichtung der vielen „Teilrealitäten“, zunehmend verschwimmend mit virtuellen Welten, gefordert. Nichts ist so erhellend und ernüchternd wie das tägliche Geschehen vor Ort. Vielleicht erleben wir bald eine Renaissance der klassischen Kommunikation „face to face“ statt der Nutzung von WhatsApp und Mail selbst über kürzeste Distanzen hinweg. Statt Abstimmungen per Internet und auf zahlreichen Screens mit manipulierbaren Likes und Dislikes feiert die gute, alte Befragung Auge in Auge ihre Wiederauferstehung. Wünsche werden wieder im wahrsten Sinne des Wortes erhört oder von den Augen abgelesen.

Demzufolge gilt der Blick wieder mehr der Mimik und Körperhaltung des Gegenübers – und nicht zuerst dem Bildschirm. Die Ohren sind wieder ehrlich auf Empfang gestellt – und nicht nur quasi im „Stand-by-Betrieb“. Entwicklungen verlaufen in Wellen, Pendel schwingen hin und her. Es würde nicht verwundern, wenn wir solche Gegenentwicklungen sehen. Als kundenorientierte Branche wären die Apotheken auf diese neuen alten Realitäten und Probleme vor Ort bestens vorbereitet!

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2018; 43(12):19-19