Digitalisierung

Fluch oder Segen?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Die Digitalisierung ist in aller Munde und scheint, über die eigentliche Technik hinaus, stellvertretend für eine Art gesellschaftliche Ersatz-Revolution auf dem Weg zu einer modernen, effizienten "Wohlstandswundergesellschaft 4.0" zu stehen. Über die Höhe der Digitalisierungsdividende und die Profiteure (sowie die Leer-Ausgehenden) besteht vielfach noch Unklarheit, umrahmt von Ängsten und Bedenken. Fluch oder Segen? In der Logik schließt ein "oder" das "und" mit ein. Die Ambivalenz des Themas liegt auf der Hand.

So hat die Digitaltechnik Dinge möglich gemacht, die zuvor "mit Papier und Bleistift" viel zu umfänglich waren. Zu nennen sind numerische Berechnungen (Strukturberechnungen, Strömungs- und Crashsimulationen, Wettervorhersagen etc.) und der Umgang mit riesigen Datenmengen. Die komplexen Buchungssysteme in der Luftfahrt beispielsweise waren somit nicht ohne Grund ein früher Anwendungsbereich. Die scheinbar einfache Aufgabe zu errechnen, wie viele Möglichkeiten es gibt, 10 € (bzw. seinerzeit 10 DM) zu wechseln, erforderte in den späten 1970er Jahren auf einem damals hochmodernen Hewlett-Packard-Tischrechner eine ganze Woche Rechenzeit; heute sind es mit dem nicht einmal sehr rechenschnellen Excel auf dem Notebook einige Millisekunden! Der Beschleunigungsfaktor liegt bei rund hundert Millionen. Waren in den späten 1980er Jahren heimische Festplattenspeicher von einigen zehn Megabyte üblich, sind heute einige Terabyte (entsprechend einem Faktor von rund 100.000) nicht der Rede wert. Das zeigt den enormen Fortschritt und die Erweiterung der Möglichkeiten.

Im Zusammenwirken mit moderner Elektronik und Sensorik werden Dinge wie die Digitalfotografie oder die vielen Fähigkeiten eines Smartphones erst möglich. In der Robotik vereinigen sich Sensorik, Rechenpower und aktive Handlungsmöglichkeiten. Die Vernetzung, gipfelnd im Internet, stellt dann den nächsten, logischen Quantensprung dar.

Die Roboter leiten zur anderen Seite der Medaille über. So wie bereits früher durch mechanische Webstühle oder das Automobil, werden bisherige Tätigkeiten durch die Digitalisierung oft ersetzt bzw. verlagert: Statt Fahrkartenschaltern gibt es nunmehr Automaten oder Buchungs-Apps, statt Bankschaltern das Online-Banking usw. Damit wird die Arbeit jedoch schlichtweg gern auf den Kunden verlagert. Interessanterweise lassen die Menschen das mit sich machen – und empfinden es noch als Fortschritt. Manch Rationalisierungs- und Effizienzsteigerungseffekt kommt somit in erster Linie den Anbietern zugute.

Der Energie- und Ressourcenverbrauch ist enorm. Gab es früher nur wenige Großrechner, zogen zunächst die "großen" Heimcomputer siegreich in die Wohnzimmer und Büros ein, später wurden daraus sparsamere Notebooks. Heute bestimmen mehr und mehr Smartphones wie auch Tablets das Geschehen, mit nochmals geringerem Verbrauch. Dieser hat sich in die Rechenzentren rund um das Internet und in die "Cloud" verlagert. Bei den neuen Kryptowährungen (z.B. "Bitcoins") steigert sich das Energiethema zur Groteske – ihr Preis definiert sich in erster Linie aus dem gigantischen Energieverbrauch für das "Mining". Der Energie- und Rohstoffhunger der Digitalisierung ist somit ein sehr ernstes (Klima-)Thema.

Zu guter Letzt: Computer mit ihren Programmen sind dem Grundsatz nach ziemlich autoritäre Systeme. Sie verlangen nach exakt den Eingaben, die von der Software vorgesehen sind. Da gibt es keine Diskussionen oder eine Toleranz über das einprogrammierte Maß hinaus. Der Trend zur Renaissance autoritärer Strukturen dürfte folglich auch damit zusammenhängen, dass der "Homo digitalis" zunehmend dahingehend erzogen wird, sich beinahe bedingungslos der Software zu fügen und sein Leben von einem kleinen lächerlichen Apparat namens Smartphone bestimmen zu lassen.

Früher wurden Menschen durch Spitzel, Blockwarte und restriktive Sicherheitsapparate unterdrückt. Heute tragen die meisten den Spitzel freiwillig mit sich herum oder haben ihn in ihrem „Smart Home“ installiert. Den vorläufigen Abschluss dürfte diese Entwicklung in einer neuartigen Form von "digitaler Diktatur" finden – in einem Umfang, der alles Bisherige in den Schatten stellt.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(02):19-19