Überbordende Sicherheitsansprüche

Wir (ver-)sichern uns zu Tode


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Das aktuell eingeführte Securpharm-System ist ein weiterer Höhepunkt einer Gesellschaft, die einer Art "Sicherheitswahn" verfallen zu sein scheint. Das Groteske: Noch nie war das Sicherheitsniveau quer durch das Land so hoch, sei es in unserem Pharmasektor, bei Lebensmitteln oder allgemeiner Produktsicherheit, im Verkehr oder hinsichtlich der Kriminalität – selbst wenn der subjektive Eindruck bisweilen etwas anderes vortäuscht.

Doch je weniger passiert, umso mehr wird dieses Wenige medial verstärkt und mit einer Breitenwirkung wie nie zuvor in die Welt verteilt – wozu das Internet seinen gehörigen Teil beiträgt. In der Folge und mit diesem Rückenwind nimmt sich die Politik gerne selbst der ausgefallensten Themen an. So kommen Prozesse in Gang, die jedwede vernünftige Aufwand-Nutzen-Relation vermissen lassen. Jeder Aufwand bzw. die Kosten des Einen sind aber die Einnahmen eines Anderen. Treten noch mächtige Lobbygruppen auf den Plan – von Industrieunternehmen über Versicherungen und Verbände bis hin zu Non-Profit-Organisationen –, ist es nicht mehr weit zu einem neuen "Bürokratiemonster". Gern werden die Gerichte bemüht, wenn klassischer Lobbyismus nicht weiterführt. Eine völlig verkopfte und verrechtlichte Gesellschaft, gefangen in einem immer undurchschaubareren, widersprüchlichen Paragrafendschungel, öffnet die Türen zu überraschenden und folgenschweren Gerichtsurteilen. Das Theater um die Diesel-Fahrverbote mag ein kleines Beispiel sein. Auch allerlei Getier hat ja bereits Milliardeninvestitionen auf Eis gelegt.

Dabei werden die eigentlichen Ziele oft aus den Augen verloren, also der Sicherheitsgewinn, eine bessere Gesundheit oder der Schutz der Umwelt. Recht zu haben sticht Vernunft und Effizienz. Solch großzügigen Umgang mit Ressourcen können sich nur übersättigte, vor Geld scheinbar überquellende Gesellschaften leisten.

Dies führt an vornehmlich drei Stellen zu teils geradezu explodierendem Aufwand. So steigen die "Fortschrittskosten" (im engeren Sinne die Kosten je belegbar gewonnenem Zuwachs an Sicherheit, Lebensjahren, höherer Effizienz usw.) stets weiter an, nicht selten in exponentieller Weise. Das Phänomen des "abnehmenden Grenznutzens" wird hier besonders offenbar: Stets mehr Aufwand für immer kleinere Schritte vorwärts. Diese kostenintensiven Schrittinnovationen begegnen uns allenthalben, auch im Gesundheitswesen.

Das geht einher mit zunehmender Komplexität ("Komplexitätskosten"), angefangen bei den Produkten selbst (die Digitalisierung macht sich hier gerade auf, für lächerliche Probleme höchst komplexe Lösungen zu erfinden, man denke nur an den "intelligenten Kühlschrank" bzw. das "Smart Home"), über den Regelungsrahmen (Juristen lieben Komplexität und damit Undurchschaubarkeit) bis hin zu Verschiebungen in der Gesellschaft, nur noch kompliziert zu denken.

In diesem Klima gedeiht Misstrauen besonders gut. Komplexität und Intransparenz rufen nach Kontrolle. Diese führt zu teils grotesken Kosten, den sogenannten "Misstrauenskosten".

Die Multiplikation Fortschrittskosten mal Misstrauenskosten mal Komplexitätskosten ergibt die perfekte "Misserfolgsformel". Gesellschaften wie unsere, die hier an allen Faktoren kräftig drehen, sehen sich einer neuen Form von "Bubble Economy" gegenüber – einer Blase, die irgendwann laut und dramatisch platzen wird, dramatischer als es Schuldenblasen je könnten, weil dieses Platzen die Ökonomie weitgehend entkernen wird. Viel zu viele Profiteure haben sich in dieser von den wirklichen Grundbedürfnissen vollkommen abgehobenen Gesellschaft fürstlich eingerichtet, und große Teile des vermeintlichen Wohlstands fußen darauf (sowie eben auf Schulden …).

Auf den Boden der Tatsachen zurückführen sollte die schlichte Betrachtung der spezifischen Kosten, also der Kosten je gerettetem Leben, je quantifizierbarem Sicherheits- oder Gesundheitsgewinn, je verhinderter Fälschung z.B. bei Securpharm, je Terroranschlag und je vielem anderen mehr. Würde man dies jedoch stringent tun und gar noch veröffentlichen, wäre der Wahnsinn schon heute sichtbar – und das Platzen der Blase womöglich nah.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(05):19-19