Deutsches Gesundheitssystem

Teure Sünden und Systemmängel


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Gut 400 Mrd. € werden im gesamten Gesundheitswesen umgesetzt, knapp 12% unserer Wirtschaftsleistung. Mit fast sechs Mio. Beschäftigten toppt das Thema Gesundheit alle anderen Branchen um Längen. Allein die gesetzlichen Kassen werden in diesem Jahr erstmals mehr als 250 Mrd. € ausgeben. Wir wenden für die Gesundheit mehr als doppelt so viel auf wie für die gesamte Ernährung. Dafür – bzw. deshalb – sind die Leute eigentlich recht krank. Oder ist es das System, das trotz derartiger Ausgaben nur solche Resultate zustande bringt, wie wir sie eben sehen?

So leisten wir uns auf der einen Seite durchaus Spitzenmedizin – aber mit welchen Aufwands-Nutzen-Relationen, wenn nur wenig Lebenszeit mit zudem allzu oft zweifelhafter Lebensqualität gewonnen wird? Auf der anderen Seite erleben wir Mangelwirtschaft wie in einem Dritte-Welt-Land. Und diese Angebotsverknappung, ob bei Arztterminen oder Medikamenten, wirkt inzwischen weit mehr in die Masse der Patienten hinein, als dies durch Spitzenleistungen aufgewogen werden kann (zumindest nach subjektivem Empfinden). Tatsächlich enteilt die Spitzenmedizin kostenmäßig so sehr, dass man schon sehr viel Mangel in der Breite in Kauf nehmen muss – oder eben mit ökonomisch ungesunden Kostenschüben zu rechnen hat.

Nicht zuletzt leisten wir uns eine Menge Unwirtschaftlichkeiten. Traditionell sind Gesundheitssysteme im Vergleich zu High-Tech-Industriebetrieben sehr personalintensiv und hinsichtlich ihrer Investitionen in Technik und Ausrüstung eher unterkapitalisiert.

Aufgrund der Personalintensität schlagen Erhöhungen der Löhne und Einkommen sofort massiv auf die Kosten durch. Systeme mit sehr guten Verdienstmöglichkeiten, wie z.B. in den USA oder in der Schweiz, sind demzufolge ausgesprochen teuer. In Deutschland geben wir zwar im internationalen Vergleich ebenfalls ziemlich viel Geld aus (wenn auch weit weniger als der Negativ-Rekordhalter USA), ohne dass aber die Mehrzahl der Beschäftigten sonderlich gut verdienen würde. Das lässt auf erhebliche Produktivitätsdefizite schließen.

Und so ist es auch. Schon die Wartezeiten und die Zeit bis zu einer Diagnosestellung sind teils grotesk lang, mit allen Konsequenzen. So drehen die Patienten oft monate-, teils gar jahrelange Runden im System, bis überhaupt einmal eine Krankheitsursache gefunden wird. Unter anderem verantwortlich: Eine ungenügende Vernetzung und eine kleinteilige Zersplitterung der Anbieterlandschaft. "Sektorengrenzen" werden erbittert verteidigt. Wozu immer mehr ambulante Zwergkliniken Intraokularlinsen einsetzen oder andere gar Endoprothetik (wie Knie- oder Hüftgelenke) anbieten, entzieht sich ökonomischem und sogar medizinischem Sachverstand. Ein ähnliches Bild bietet sich beispielsweise in der Onkologie – mit diversen Profiteuren auch im Apothekenbereich.

So leisten wir uns teure Doppelstrukturen wie etwa bei den Fachärzten,nicht nur in den oben angesprochenen Bereichen. Neurologen, Kardiologen, Lungenfachärzte und viele andere gibt es in tausenden Praxen und tausendfach in den Kliniken. Wirtschaftlich und effizient, auch aus Patientensicht, geht anders. Wir halten weiterhin an der überkommenen Trennung in "Kassenpatienten" und "Privatversicherte" fest, im internationalen Vergleich ein Sonderweg. Wir leisten uns ungeachtet der Facharzt-Doppelstruktur enorme Krankenhauskapazitäten. Trotz mit weitem Abstand größtem Einzelbudget ächzen die Kliniken unter der Belastung.

Eine völlige Überbürokratisierung und -verwaltung, planwirtschaftliche Strukturen und in der Folge die Fehlallokation von Ressourcen setzen allem die Krone auf. Möglicherweise sind sie zu einem guten Teil ursächlich für diesen Wildwuchs. Um die 25% der Gesamtkosten verpuffen nach diversen Erhebungen auf allen Ebenen im bürokratischen "Wasserkopf".

Deutschland tut das Übliche: Hohe Ansprüche formulieren, sich selbst über den Klee loben, mäßige Ergebnisse liefern. Einen großen Mercedes bezahlen, tatsächlich einen Golf fahren – und diesen womöglich noch für eine Luxuslimousine halten. Durchgreifende Reformbereitschaft? Um Himmels Willen! Lieber weiter "big money for less".

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(04):19-19