In der Falle

Corona-Shutdown unlimited?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Die Politik befindet sich zurzeit durchaus in einer verzweifelten Lage: Entscheidungsträger müssen sich einerseits die Vernichtung vieler Existenzen anrechnen lassen, um andererseits Leben und Gesundheit zu schützen. Abwägungsfragen bleiben da nicht aus.

Die Dynamik erinnert an die Finanzkrise 2008. Als sie hereinbrach, schauten die Politiker in Abgründe im Multi-Billionen-Bereich. Keiner wusste, was da bei Banken und Spekulanten an "finanziellen Neutronenbomben" schlummerte. So wurden hastig gigantische Rettungspakete geschnürt. Damals jedoch ging es "nur" um Geld. Zur Not hätte man den Rotstift gezückt und einfach einen Schlussstrich unter so manche Bilanz gezogen, bis hin zur Währungsreform. Mit der Corona-Pandemie stehen aber plötzlich nicht mehr nur Zahlen auf dem Papier, sondern es geht um ganz harte Fakten: Leben, Gesundheit und die Realwirtschaft – bis in alle Verästelungen der Gesellschaft hinein. Ähnlich wie 2008 schauten die Verantwortlichen in einen apokalyptischen Abgrund. Transferiert man die anfangs bekannten Erkrankungs- und Todesraten auf unsere Republik, ließen sich im ersten Worst Case 1,2 Millionen Tote und eine fünf- bis zehnmal so hohe Zahl an Krankenhausfällen annehmen – in wenigen Wochen! Da setzt man sich erst mal, und beinahe jedes Mittel ist recht.

Doch wachsen unsere Erkenntnisse. Aufgrund der hohen Dunkelziffer an unerkannt Infizierten stimmt schon die Grundgesamtheit nicht, auf die die Erkrankungs- und Sterbeziffern zu beziehen sind. Dieser Faktor dürfte mindestens bei 3 bis 4, womöglich gar bei um die 10 liegen. Aus ehemaligen Prozenten werden Promille. Möglicherweise besteht doch eine gewisse Immunität, erstaunlicherweise steckt sich nicht jeder trotz engen Kontakts z.B. im Haushalt an. Aus apokalyptischen werden inzwischen schlimme, greifbarere Zahlen.

Eine Infektion kann man mittels natürlicher "Durchseuchung", mittels Impfung oder bis dahin mittels Eindämmung (um den Preis mangelnder Immunisierung) einfangen. Allerdings lässt es sich kaum durchhalten, die Wirtschaft bis zur Durchimpfung in den Pausenmodus zu versetzen. Zudem: So trivial ist das nicht mit einem Corona-Impfstoff. Wird dieser überhaupt ausreichend wirksam sein und unsere Hauptrisikogruppen (vor allem vorgeschädigte Hochbetagte) adäquat schützen? Ohne Frage gilt es, alle Anstrengungen auf die Impfstoff-Entwicklung zu fokussieren. Doch es wäre ein Fehler, sich nur darauf zu verlassen. Wir steuern nämlich noch ohne Impfung auf die nächste Herbst-Winter-Saison zu. Mit welcher Grundimmunität wollen wir da hineingehen? Rasch droht eine zweite, verheerende Welle bei dann erschöpften Ressourcen. Und diejenigen Länder, die jetzt ganz eifrig den "Lockdown" praktizieren, könnten den stärksten Rebound erleben.

So steht der weiße Elefant im Raum: Wie verhindern wir den Rückfall in ein unkontrolliertes exponentielles Fallwachstum, bauen aber gleichzeitig möglichst "geräuschlos" eine breite Immunität besonders in Nicht-Risikogruppen auf ("Silent Immunization")? Und wie gelingt es, unsere Kapazitäten dabei nicht zu überfordern? Das ist kalkulierbar. Unsere jetzt verstärkten freien Bettenkapazitäten könnten etwa 3.000 bis 5.000 Fälle täglich neu aufnehmen. Bei einer Hospitalisierungsrate im unteren Prozentbereich (selbst wenn man nur eine niedrige Dunkelziffer zugrunde legt) würde das ganz beachtliche Infektionsraten zulassen und uns so bis in den Spätherbst tragen. Die (nicht einfache!) Herausforderung wäre es, dies in einem kontrollierten Korridor zu halten. Zwar stehen derzeit fast alle Länder vor dieser Aufgabe, allerdings ist der Korridor in vielen von ihnen aufgrund der oft weit niedrigeren Behandlungskapazitäten enger als bei uns. Sie bekommen die Rechnung schlimmstenfalls in etlichen Monaten.

Die Theorie ist das eine, die Umsetzung das andere. Noch größer allerdings ist die Herausforderung zu kommunizieren, was jeder Weg letztlich bedeutet. Alles, was wir in dieser Krise tun, trägt verstörende "Preisschilder". Davor will man sich wegducken. Nun legt man die ganze Hoffnung auf eine Impfung irgendwann – und favorisiert derweil das Modell einer "Controlled Suppression" auf unbestimmte Zeit, hofft gar auf eine Eindämmung anhand der jetzt zur Zielgröße erhobenen Basisreproduktionszahl R, die unter 1 liegen soll. Was auf dem Papier tatsächlich klug erscheint, ist angesichts des möglichen dicken Endes praktisch extrem riskant.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(09):19-19