Ausnahmezeiten

Navigieren mit gestörtem Kompass


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Ausnahmezeiten zeichnen sich dadurch aus, dass bekannte Leitlinien, Anhaltspunkte und Kennziffern nicht mehr und nur noch in sehr modifizierter Form gelten. Ein "Apothekenschiff" im Sturm mit sich drehender Kompassnadel zu steuern, verlangt nach neuen Sichtweisen.

Inzwischen wird die Corona-Strategie der Regierung klar: Es ist ein vorerst risikominimiertes Modell, mit dem man durch die Pandemie kommen möchte. Das bedeutet eine strikte Kontrolle der Infektionszahlen (mittels des berühmten "R-Wertes", der Reproduktionszahl), indem man die Wirtschaft und das öffentliche Leben weiter stark drosselt – wahrscheinlich über viele Monate. Das ist der öfters zitierte "Marathonlauf" oder die "neue Normalität". Die Wahrheit gibt es nur häppchenweise. Wir werden bald sehen, wer alles (nicht) marathontauglich ist ...

Obwohl unsere medizinischen Kapazitäten eine höhere Infizierungsrate zulassen würden und damit bis zum Herbst eine ausreichende Immunisierung für die hinsichtlich Atemwegserkrankungen gefährlicheren Wintermonate aufgebaut werden könnte, scheut man die Konsequenzen und "schlechte Zahlen" in der nahen Zukunft. So hofft man lieber nur auf die "Wunderwaffe" Impfstoff. Ob man sich da nicht verkalkuliert (vgl. die Übersicht in Abbildung 1 sowie auch den Beitrag "Corona-Shutdown unlimited?")?

Minus als Dauerzustand?

Mit dieser Strategie deuten sich teils massive wirtschaftliche Einschränkungen an, die länger als gedacht dauern werden. Zwar dürfen Läden bis zu 800 Quadratmetern jetzt wieder öffnen, allerdings unter beträchtlichen, kostspieligen und umsatzdämpfenden Auflagen. Da stellt sich die Frage, ob es für viele von ihnen, gerade wenn sie inhabergeführt sind, überhaupt Sinn ergibt, mit stark gedrosselten Kundenzahlen zu starten und sich darauf einstellen zu müssen, dass dies über eine unbekannte Anzahl an Monaten so bleiben wird? Denn man will die Einkaufsstraßen ja nach wie vor ziemlich leer und die Kontaktraten niedrig halten (was im Rahmen der gewählten Suppressionsstrategie wiederum schlüssig ist).

Wer die knappen Renditen im Einzelhandel kennt, staunt nur, wie dieser Spagat aufgehen soll. Für viele dürfte es sinnvoller sein, die Türen ganz zu schließen, als mit zu erwartenden 50% oder 70% des Normalumsatzes hohe Verluste und die Insolvenz auf Raten einzufahren. Wer seinen Betrieb trotzdem anfährt, muss erst einmal die Kosten massiv anpassen – und das wird nicht mehr nur mit Kurzarbeit gehen. Hinzu kommt, dass die zahlreichen Auflagen, Hygieneregeln etc. stark kostentreibend wirken werden. Könnten da (erheblich) höhere Preise ein Ausweg sein? Lassen sich diese überhaupt durchsetzen, solange es die Online-Konkurrenz sowie starke Ketten und Filialisten gibt?

Apotheken werden an alledem ebenfalls für eine längere Zeit zu knabbern haben – umso mehr, je höher der Anteil ihrer Laufkunden ist. Besonders hart trifft es diejenigen in den nach wie vor geschlossenen oder weitestgehend entvölkerten "Geistercentern". Und selbst der Betrieb bei den Ärzten und sonstigen Gesundheitsdienstleistern wird absehbar gedämpft bleiben, ob aus Angst vor Ansteckung, weil der Anreiz zum Stadtbesuch geringer ist oder weil viele Menschen merken, dass sie auch ohne die in Vor-Corona-Zeiten bisweilen extensiv-zahlreichen Arzt- und Apothekenbesuche nicht von der Stange fallen.

Ein kleiner, fürs Geschäft positiver Nebeneffekt: Statt in Urlaub zu fahren, werden die Leute wohl weitgehend zu Hause bleiben. Damit wird das saisonale Sommerloch insoweit milder ausfallen. Nebenbei spart "Urlaub auf Balkonien" Geld, was dann anderweitig zur Verfügung steht – wobei jedoch die Ausgabenbereitschaft durch die arg durchwachsenen Aussichten getrübt sein wird.

In der Konsequenz ist für die Mehrzahl der Apotheken ein sich verfestigendes Minus von 10% bis 20% bis zum Ende des Jahres nicht weit hergeholt. Lediglich das sehr gute erste Quartal wird die Jahresbilanz abmildern. Unterm Strich werden Rückgänge vor allem bei den Kundenzahlen, aber auch bei den Umsätzen und Erträgen stehen. In diesem Zusammenhang müssen Sie Ihre Auswertungen und Kennzahlen neu bewerten und am besten in Klammern setzen. Was soll eine Kennzahl wie z.B. die ansonsten so wichtigen Personalkosten pro Kunde in diesen Ausnahmezeiten aussagen? Schauen Sie jetzt auf den Cashflow und Ihre Liquidität – sowie schlicht auf Ihre Betriebs- und Lieferfähigkeit!

Preispolitik klug überdenken

Für Apotheken steht damit ebenfalls das Thema "Preise" zwecks teilweiser Verlust- und Aufwandskompensation im Fokus: Kann man sich Preiserhöhungen leisten – und in welchem Rahmen? 3% bis 5% gehen eigentlich immer, zumal wenn Sie das clever in "Schwellenpreisen" verstecken. 10% auf breiter Front werden bereits schwieriger durchzusetzen sein. Geht der Absatz dann nur um 10% zurück, liegen Sie beim Ertrag bereits im Minus. Zwar wissen die Leute einerseits um die Krisenlage und haben bereits erfahren, welche Preissprünge Klopapier, Desinfektionsmittel, Schutzmasken und Körperpflegeartikel vollführen können. Andererseits wird es zunehmend eng in der eigenen Geldbörse.

"Friedhofsdividenden-Saison"

Durch all diese Herausforderungen dürfte die Saison der "Friedhofsdividenden" in den Jahren 2020/2021 besonders üppig ausfallen. "Last man standing" wird es vielerorts heißen. Umgekehrt eröffnet das auch enorme Chancen, Märkte neu zu ordnen und manchen Inhabern eine goldene Brücke in den Ruhestand zu bauen, auf den sie im Gefolge von Bürokratie-Wahnsinn, Digitalisierung und Marktverschiebungen bereits länger warten. Vielleicht ist dies der entscheidende Anstoß, genau jetzt die berühmte Situation "Eine Kleinstadt – fünf Apotheken“" neu zu denken. Leidensdruck macht erfinderisch – und lässt die Kompromissbereitschaft wachsen.

Anspruchshaltung wird sinken

In der Folge dürfte eine deutliche Abschwächung des Personalmangels zu erwarten sein. Ungeachtet sinnvoller und angebrachter "Krisenprämien" und Incentives wird damit die Lohndynamik nachlassen. Alles andere wäre in einem anhaltenden Rezessionsszenario mehr als wundersam. So mancher Hauptverdiener wird seine Stelle verlieren bzw. erheblich kürzer treten müssen, was z.B. die Nachfrage nach zusätzlichen Stunden bei den mitverdienenden Ehefrauen – viele unserer PTA und PKA! – ankurbeln wird.

Als Inhaber werden Ihre Auswahlmöglichkeiten absehbar steigen, und wir kommen wieder zurück in einen Arbeitgebermarkt. So manche Be- und Empfindlichkeiten in den Teams, die sich teilweise ins Groteske gesteigert haben, werden wieder auf Vernunft und Augenmaß zurückgeführt. Es gibt also nicht nur schlechte Nachrichten. Krisen rücken eben auch so manches wieder zurecht.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(09):4-4