Apotheken gefragt

Weg mit dem Speck!


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Die Coronakrise hat uns die Vulnerabilität unserer heutigen Gesellschaft deutlich vor Augen geführt, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in rein physischer Hinsicht. Covid-19 sollte uns den Spiegel unserer Probleme vor Augen halten: Einerseits legt die Erkrankung als Zoonose, die wieder einmal auf den Menschen übergesprungen ist, den Finger in die Wunden unserer Nahrungsmittelgewinnung und unseres Umgangs mit der Natur. Beides ist von Nachhaltigkeit und Risikominimierung weit entfernt.

Andererseits adressiert gerade SARS-CoV-2 die Ausflüsse unserer Handlungsweisen erschreckend zielgenau. Weit überproportional betroffen sind "Risikogruppen", und zu deren Entstehen tragen die Auswüchse unserer Konsumgesellschaft den größten Teil bei: Fettsucht samt übermäßigem Verbrauch von Alkohol, Tabak und anderen schädlichen Genussmitteln. Sie alle bilden eine wichtige Grundlage für Folgeerkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselentgleisungen aller Art sowie schlicht für mangelnde körperliche Fitness mit allen Konsequenzen für die jeweilige Immunlage. Tatsächlich muss man auch das andere Extrem – übermäßigen Fitnesswahn und übersteigerte Sportaktivität – als Risikofaktor sehen. So waren schon in der Vergangenheit auf den ersten Blick topfitte Sportler stärker gefährdet als der "gesunde Durchschnitt", und sie sind es diesmal auch. Will heißen: Übermaß tut selten gut, egal in welcher Richtung.

Nichtsdestotrotz bleibt das Übergewicht der Hauptübeltäter und Risikofaktor. Jeder Punkt auf der Body-Mass-Index (BMI)-Skala über 25 hinaus erhöht die Covid-19-Letalitätsrate um 12%, bis sie sich bei massiv Übergewichtigen (BMI>40) vervielfacht.

Nur die wenigsten Übergewichtigen möchten zudem die zigfach gesteigerten Gefahren im täglichen Leben wahrhaben. So vervielfacht sich mit der Körperfülle weiterhin das Risiko, bei einem Pkw-Crash als Insasse schwer oder gar tödlich verletzt zu werden. Auch das Sturzrisiko im Alltag mitsamt der Schwere der Konsequenzen ist stark erhöht. Landet man auf dem Operationstisch, haben die Ärzte mit weitaus größeren Herausforderungen zu kämpfen, und die Risiken für die Patienten steigen massiv. Die Auswirkungen auf den Stoffwechsel, das Herz-Kreislauf- und Skelettsystem und ganz allgemein auf Gesundheit und Fitness sind bekannt. Trotzdem sind weltweit doppelt so viele Menschen stark übergewichtig wie unterernährt. Grassierende Armut als Folge der globalen Coronakrise könnte dies unbeabsichtigt ändern. Gesundheitspolitisch und -ökonomisch brauchen wir keinen (im Übrigen recht erfolglosen) "war on drugs", sondern vielmehr einen "war on obesity".

Der Blick in die Natur offenbart, warum solche Probleme dort überhaupt nicht erst aufkommen: Vögel könnten mit 30%, 40% oder mehr "Übergepäck" gar nicht mehr abheben. Frau und Herr Specht würden außerdem mit nur etwas zu viel "Hüftgold" im millimetergenau gezimmerten Einflugloch ihrer Bruthöhle schlicht steckenbleiben. Und man stelle sich einmal einen BMI-40-Vertreter in Löwen- oder Geparden-Gestalt vor – und seinen Jagderfolg!? Die Natur löst dies alles ganz einfach und pragmatisch. Und wir? Wir gleichen die Probleme durch unser Sozialsystem aus und lassen geradezu irrsinnige Energien für uns wirken: Teils hochmotorisierte Fahr- und Flugzeuge aller Art, Aufzüge selbst für nur wenige Etagen oder die immer beliebteren Klimaanlagen. Nicht zu vergessen die Medizin, die viele noch im Spiel hält.

Apotheken könnten künftig eine enorm wichtige Rolle spielen, um die Bevölkerung fitter für die Zukunft zu machen. Zum Nutzen aller, sowohl des Einzelnen als auch der Solidargemeinschaft. Eher zaghafte Ansätze wie vor etlichen Jahren die Aktion "Leichter leben in Deutschland" sollten wiederbelebt und viel besser ausgestattet werden. Das wird nicht einfach, denn auf die Frage: "Was würden Sie tun, um einige Lebensjahre zu gewinnen?" antworten die meisten erstaunlicherweise: "Eher wenig!" – während sonst jedes Lebensjahr als quasi unbezahlbar eingestuft wird. Nur wenige möchten Grundlegendes ändern. Hier fehlt noch viel Bewusstsein. Doch bei den Rauchern hat sich ebenfalls vieles zum Positiven verändert, warum nicht auch hier? "Die fetten Jahre sind vorbei!" Das könnte doch eine gute Nachricht sein, insbesondere wenn die Apotheken daran ihren Anteil hätten.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(13):19-19