Corona-Impfstoff

Zwischen Hoffnung und Illusion


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Schafen oder Kaninchen hält man eine Karotte vor, damit sie sich in die gewünschte Richtung bewegen. Solange das Tier die Karotte nicht zu fassen bekommt, läuft es brav immer weiter, wenn auch mit wachsender Ungeduld. Bei uns Menschen fallen die "Möhren" je nach Position auf der Maslowschen Bedürfnispyramide weit vielgestaltiger aus. Zudem bedienen wir uns komplementär dazu eines ganzen Arsenals an Sanktionen zwecks negativer Konditionierung. In der Coronakrise erfüllt ein möglicher Impfstoff die Funktion der Möhre zwecks einer hier positiven Konditionierung. Ohne Aussicht auf ein "gutes Ende" und eine regelrechte "Wunderwaffe" wären wohl viele Maßnahmen kaum oder nur sehr viel schwieriger mit größerer staatlicher Repression durchzusetzen gewesen. Selbst aktuell basieren viele, insbesondere wirtschaftliche Annahmen darauf, dass Corona alsbald durch Impfstoffe "erschlagen" sein wird. Gerade die Finanzmärkte spiegeln diese Story wider, sonst wären die jetzigen (fundamental viel zu hohen) Börsenkurse gar nicht nachvollziehbar. Die "neue Normalität" in einem halbwegs alten Vor-Corona-Gewand und die Impfstoffe gehen noch Hand in Hand. Doch wie realistisch ist das in absehbarer Zeit?

Über 160 Entwicklungsprojekte, ein Multi-Milliarden-Aufwand und erste "hoffnungsvolle" klinische Studien (indes noch keine wirklich belastbaren aus der entscheidenden Phase 3) wähnen das Ziel einer bequemen und unter dem Strich trotz aller Forschungs-Milliarden sehr kostengünstigen Beherrschung der Pandemie tatsächlich in greifbarer Nähe. Dennoch wird kaum etwas so überschätzt wie die erhoffte rettende Wirkung der Corona-Impfstoffe. Woran hakt es dabei?

Am Anfang steht die Frage nach dem "Ob", also inwiefern es überhaupt je einen wirksamen Impfstoff geben wird. Bei vielen gefährlichen Massen-Krankheiten wie AIDS, Malaria oder Hepatitis C ist das trotz immenser Anstrengungen in Jahrzehnten nicht gelungen. Das kann hier genauso passieren. Doch selbst wenn man anwendbare Vakzinen zeitnah finden sollte, wird das an der kurz- bis mittelfristigen Lage erstaunlich wenig ändern. Dazu spielen schlicht zu viele Faktoren hinein.

Am ehesten lösbar scheinen die Fragen nach den Produktionskapazitäten und der Logistik, zumindest in den Industrieländern. Bis zur globalen Versorgung ist es dagegen ein weiter Weg. Denn wenn die Präparate vorliegen: Wie lange wird es dann dauern, die zur "Herdenimmunität" benötigte Durchimpfungsrate von 70% bis 80% zu erreichen, zumal eine nicht unbeträchtliche, in diesem Kontext fast kafkaeske Impfskepsis besteht? Wird die Immunität mit nur einer oder aber mit mehreren Impfungen erreicht? Und: Brauchen wir polyvalente Impfstoffe, die die bereits bekannten Mutationen abbilden – was aber die Produktion und die klinische Erprobung aufwendiger machen würde?

Selbst wenn dies geschafft sein sollte: Wie hoch wird die Wirksamkeit sein? 50%? 70%? 90%? Wie verteilt sich diese Wirksamkeit auf die Altersklassen und die Risikogruppen, die überwiegend (sehr) alt und bereits krank sind? Welche Nebenwirkungen sind gerade hier zu erwarten? Wie lange wird es dauern, dies alles valide zu erkennen? Auch wird man erst im Laufe der Zeit praktisch erfahren, wie es mit einem eventuellen Immunitätsverlust über die Monate (oder Jahre?) und den dann erforderlichen Nachimpfungen aussieht.

Die primäre Schutzwirkung ergibt sich aus der Multiplikation der Wirksamkeit mit der Durchimpfungsrate. Sie kann je nach Population und Region sehr unterschiedlich ausfallen. Bei einer z.B. 70%igen Wirksamkeit (was nicht so schlecht wäre) und immerhin 60% Durchimpfungsrate ergäbe sich eine Schutzrate von unter 50%. Das reicht zwar, um die Kinetik der Infektionsausbrüche stark einzubremsen, doch der Einzelne, insbesondere der Risikopatient, ist mitnichten sicher. Wird eine reale statistische Risikoreduktion von z.B. 50% reichen, um wieder in die gewohnte Normalität zurückzukehren? Hier bestehen berechtigte Bedenken.

Unter dem Strich entpuppen sich Impfstoffe nicht als die schnellwirksame Wunderwaffe, sondern als ein (hoffentlich) mehr oder eben weniger wichtiger Baustein in der Bekämpfung einer Pandemie, die zu überwinden weit länger dauern wird als gedacht.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(15):19-19