Nicht erst seit der AvP-Pleite

Tanz auf dem Hochseil


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Dieser Schlag saß: Die Insolvenz des Rezeptabrechners AvP, der in Wahrheit ein kaum durchschaubares Firmengeflecht ist. Wer konnte sich angesichts der bisherigen Stabilität des Rezeptmarktes vorstellen, wie ein narrensicheres Geschäft – man zieht Rezepte ein, rechnet sie ab und leitet sie digitalisiert weiter – pleitegehen kann? Da sind viele Geschäftsmodelle ganz anderen Verwerfungen ausgesetzt. Doch man kann boshaft alles an die Wand fahren. Trifft da die nun wieder erhobene Forderung nach mehr Regulierung und Kontrolle, wie meist nach Katastrophen aller Art, wirklich den Kern der Sache?

Sicher, mit einem der so beliebten, stets nachhinkenden Korrekturgesetze könnten wir einen Fall wie AvP zumindest in dieser Form künftig ausschließen (indem z.B. Gelder zwingend treuhänderisch verwaltet werden und insoweit dem Firmenzugriff entzogen sind). Damit hätten wir aber nur ein winziges Loch in einem ganzen Labyrinth geschlossen.

Im Kern hat unser gesamtes System (mitnichten nur das der Apotheken!) inzwischen eine atemberaubende Komplexität mit einem extremen Grad an Vernetzung und enger zeitlicher Taktung erreicht. Zunehmend automatisiert, digitalisiert, schwer überschaubar, mit immer weniger Reserven. Hakt es in diesem Netz an nur einer Stelle, drohen massive Verwerfungen. Ein "pandemisches" Computervirus könnte heute ähnliche oder gar größere Schäden als ein natürliches Virus wie Corona anrichten. Und wir treiben diese Abhängigkeiten u.a. mit der Digitalisierung weiter voran. Schon heute kann ein Securpharm-Ausfall die Arzneimittelversorgung empfindlich einschränken, ein gecrashter E-Rezept-Server dürfte sie demnächst völlig lahmlegen. Die Probleme anlässlich der Software-Umstellung einer bekannten Heilberufe-Bank sind ebenfalls noch frisch im Gedächtnis. "Klumpenrisiken" sind nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.

Gleichzeitig steigen die bewegten Summen dramatisch an. Waren "Hochpreiser" zu den Entstehungszeiten des Kombimodells eine rare Spezies, umfassen sie heute 40% des Rx-Marktes, mit Packungspreisen in oft fünfstelliger Höhe. Einst als Lagerkostenzuschlag gedachte 3% Aufschlag bilden die Risiken infolge von Retaxationen, Lagerung, Transport und Verfall sowie eben Zahlungsausfällen längst nicht mehr ab. Bei immer geringeren prozentualen Renditen betreiben wir finanzielle Hochseilakrobatik ohne Sicherheitsnetz. Andere Branchen wie Juweliere oder Luxusartikel-Händler lassen sich wenigstens ihre Absatz- und Verlustrisiken durch zweistellige Gewinnmargen und Zuschläge auf den Einkaufspreis von gerne mal 100% oder mehr bezahlen.

Eine solche, für einen einzelhaftenden Kleinunternehmer risikoadäquate Honorarerhöhung liegt für uns in weiter Ferne. Da kommt schnell der Staat als Universal-Garant auf den Schirm, dem aber so eine Überforderung mit Aufgaben droht, die zumindest unser Allgemeinwesen gar nicht leisten kann. Wir sehen das gerade in der Coronakrise. Der Staat kann nicht für die Umsätze der Wirtschaft geradestehen. Das mag allenfalls in einer totalen Zentralverwaltungswirtschaft anders sein – aber mit welchem Ergebnis für das allgemeine Wohlergehen?

Damit stellt sich auf unserer Seite die Systemfrage. Ist unser jetziges Apothekensystem überhaupt noch zukunftstauglich? Brauchen wir nicht dringend eine stringente "Re-Regulierung", ein gutes Stück weit angelehnt an die Zeit vor 2004? Sollten wir mehr von den Ärzten lernen, uns also weniger kaufmännisch als heilberuflich-dienstleistungsorientiert mit leistungsadäquaten, wirklichen "Honoraren" aufstellen? Oder liegt die Chance eher in der Deregulierung mit Schaffung großer kapitalstarker, aber auch haftungsbegrenzter Strukturen, die ihre dann vorderhand kaufmännischen Interessen besser zu vertreten wissen?

Zumindest beim Thema Abrechnung könnte uns aber ausgerechnet die gescholtene Digitalisierung helfen. Das E-Rezept erlaubt theoretisch eine Echtzeit-Fakturierung am Point of Sale mit einem elektronischen Clearingsystem analog Securpharm: Rezept einlesen, verifizieren, Arzneimittel abgeben, Geld wird sofort überwiesen – das ist machbar! Doch wird unser Berufsstand den Mut haben, die heutigen Abrechnungsstrukturen mitsamt den ganzen Posten und Pöstchen aufzugeben?

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(20):19-19