Corona außer Kontrolle?

Alarmstufe Rot


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Was Fachkundige angesichts bislang geringer Infektionsraten und einer nach wie vor ansteckungsgefährdeten Bevölkerung längst wussten, tritt nun ein: Die zweite Welle, wohl härter als die erste, rollt. Es wird ungemütlich kalt in der Republik – und ausgesprochen ernst.

Corona ist wie ein Eisberg: Das Meiste liegt quasi unter der Wasseroberfläche. Wenn hierzulande jetzt z.B. 80.000 "aktiv Infizierte" ausgewiesen werden, sind es real eher fünf- bis zehnmal so viele – das Phänomen der Dunkelziffer bzw. der unerkannt Infizierten. In Zeiten steilen Anstiegs bei limitierten Testkapazitäten steigt diese Dunkelziffer wieder, im Sommer war sie niedriger. Somit haben wir jetzt wohl Prävalenzen im Bereich von 1:200 bis 1:100, in "Hotspots" von mehr. In einer durchschnittlichen Apotheke schlagen daher wohl inzwischen täglich ein oder sogar mehr Infizierte auf.

Gefährdungsprofil

Wie gefährlich ist die Covid-19-Erkrankung? Neuere Studien arbeiten die Infektionssterblichkeit (IFR, Infection Fatality Rate) heraus und nicht nur die gerne publizierte Fallsterblichkeit (CFR, Case Fatality Rate). IFR und CFR unterscheiden sich durch die Dunkelziffer. Die IFR beschreibt die tatsächlich relevante Sterblichkeit, die sich auf alle Infizierten (und nicht nur die positiv Getesteten) bezieht.

Mit dem Alter steigt die IFR so steil an, dass sie in Abbildung 1 sogar logarithmisch aufgetragen ist: Knapp 20 zusätzliche Lebensjahre bedeuten über weite Altersbereiche eine Verzehnfachung der durchschnittlichen Letalität! Das ist einmalig. Während die Letalitätsrate bei Kindern und jungen Erwachsenen im Sub-Promille-Bereich liegt, bewegt sie sich in der zweiten Lebenshälfte auf den Prozentbereich zu und steigert sich auf Werte von 10% und mehr jenseits des 80. Lebensjahres. Frauen unterbieten diese Durchschnittswerte um etwa ein Drittel, Männer liegen um ein Drittel darüber. Individuelle Risikofaktoren können die Werte teilweise vervielfachen.

Auf jeden Gestorbenen kommen zudem drei- bis fünfmal so viele Krankenhausfälle. Die langfristigen Krankheitsfolgen lassen sich noch nicht wirklich gut abschätzen, werden aber in einem niedrigen Prozentbereich der bekannten Infektionsfälle (also ohne Dunkelziffer) gehandelt.

Wirkungsketten

An dieser Stelle ein kleiner Ausflug in die Infektionskinetik samt Quantifizierung der Wirksamkeit einzelner Maßnahmen.

Ein Infektionsgeschehen kann man sich wie ein Kompartimentmodell vorstellen (vereinfachtes "SIR-Modell", vgl. Abbildung 2): Da sind die Infizierbaren, die sich mit einer gewissen Infektionsrate anstecken. Ihre Anzahl reduziert sich kontinuierlich um die Genesenen (idealerweise dann Immunen) sowie die Gestorbenen (von denen einige zuvor in der Klinik behandelt werden). Das alles lässt sich mit Differenzialgleichungen beschreiben und führt zu den glockenartigen Verläufen der Infiziertenzahlen mit sehr steilen Anstiegen in der Hochphase einer ungebremsten Infektionswelle. Uns interessieren hier die Eingriffsmöglichkeiten auf Ebene der Infektionsrate:

  • Die Kontaktrate: Ihre Begrenzung ist das schärfste Schwert jeder Infektionsbekämpfung, mit der Quarantäne als Extremform. Wer bislang 50 Menschen getroffen hat, und nun noch fünf, reduziert das Risiko statistisch mal eben um 90%.
  • Die Infektionswahrscheinlichkeit: Wie lässt sich bei einem unvermeidbaren Kontakt das Ansteckungsrisiko mindern? Den oft höchsten Effekt im Alltag hat der Abstand, besonders bei einer Übertragung per Tröpfchen, weniger bei Aerosolen. Der erste Meter Abstand bringt nach einer groben Faustregel bereits eine Risikoreduktion um 70% bis 80%, jeder zusätzliche Meter um weitere 50%. Plexiglas-Abschirmungen sind hier ebenfalls eine hochwirksame Maßnahme.
  • Der "Maskenzauber" bringt im Durchschnitt noch 25% bis vielleicht 50% Risikoreduktion, wobei die Streubreite sehr groß ist – je nach Situation, Maskentyp und Korrektheit des Tragens. So sind über 80% Wirksamkeit genauso möglich wie unter 10% (z.B. draußen). Masken sind daher ein nicht allzu starkes Glied in dieser Kette, aber eben breitenwirksam. Hochwirksam sind helmartige Konstruktionen, zumindest jedoch FFP-Masken.
  • Eine weitere Säule ist die Luftqualität: Luftwechsel (Lüftung!) sowie spezielle Luftreinigungsgeräte. Richtig angewandt, lässt sich das Risiko lageabhängig um gut 50% reduzieren. Vergessen wir zudem nicht die allgemeine Hygiene und die individuelle Immunstärkung!

Wir haben es hier mit einer Wirkungskette zu tun: Der Gesamteffekt ergibt sich durch Multiplikation der einzelnen Risikoreduktionen! Landesweit sollte die Corona-Infektionsrate übrigens um rund 80% sinken, damit das Geschehen stabil unter Kontrolle bleibt, in "Hotspots" um noch mehr.

Angesichts somit wieder einbrechender Kundenfrequenzen wird die "apothekerliche Fernbeziehung" zu den Kunden so wichtig wie noch nie – und ist ganz klar die Methode der Wahl. Wenn Sie mit Ihren besten Stammkunden beginnen (Sie erinnern sich: mit 100 Kunden machen Sie schon die Hälfte des Rezeptumsatzes!) und sich dann Stück für Stück vorarbeiten, ist das zu schultern. Konkret bedeutet das vor allem, Videoschaltungen einzurichten und die Kontaktmöglichkeiten per Telefon, Mail und Internetseite up to date zu halten. Und: Stellen Sie sich auf einen langen kalten Winter ein – vielleicht nicht wettertechnisch, wohl aber gesellschaftlich, stimmungsmäßig und vermutlich oft auch finanziell.

Service

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Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(21):4-4