Corona legt Schwächen offen

Gut gemeint ist längst nicht gut gemacht


Prof. Dr. Reinhard Herzog

"Wer nichts weiß, der muss eben alles glauben" – dieser Spruch ist zwar nicht neu, und doch scheint er nicht allzu bekannt zu sein. Das rächt sich nun im Zeitraffer. An und für sich sollte man meinen, dass gerade jetzt die Wissenschaft und eine nüchterne, naturwissenschaftliche wie ökonomische Betrachtungsweise ihre Blütezeit erleben. Zum Teil stimmt das auch, in (zu) vielen Teilen des gesellschaftlichen Lebens ist das aber nicht der Fall.

Wir sind stolz auf unser Wertesystem (welches eigentlich genau?), und aus unserer mal religiös, mal ideologisch geprägten Geschichte wachsen wir nur mühsam heraus. Mit nüchternen Realitäten fremdeln wir gerne. Wir sonnen uns in einem Wohlstand, der überwiegend nur noch im Rückspiegel glänzt. Wir wollen es jedem recht machen und erachten es als Erfolg, wenn wir am Ende niemanden zufriedenstellen. So schwächt man alle. Das nennen wir Kompromiss- oder Konsensgesellschaft. Dass unter diesen Kompromissen etliche unehrlich sind und dass so manch einer seine Partikularinteressen wunderbar in dieser gerne trüben Konsenssoße verbergen kann, sei nur angemerkt. Das Zaubermittel Geld vermag ja so vieles zu überdecken.

Ein bisschen ulkig verpackte RNA namens SARS-CoV-2 ist nun dabei, diese ganzen Kuschelrunden im Zuge der "zweiten Welle" zu sprengen. Konnte man sich in den vergangenen Monaten – auch durch Glück und etwas zeitlichen Vorlauf – noch auf seinen vermeintlichen Leistungen ausruhen und vieles mit (inzwischen wieder neu geliehenem) Geld notdürftig kaschieren, wird es in den nächsten Wochen heißen: Top oder Flop.

Die Corona-Molekularstatistik gehorcht den Regeln endloser Verhandlungsrunden nämlich nicht. Wer sich ein wenig mit Epidemiologie auskennt, dem war schon lange klar, dass es auf die Bedrohung mit einem Erreger dieses Gefahren- und Ansteckungspotenzials nur zwei Antworten gibt: Entweder man dämmt ihn hart auf Fallzahlen nahe Null ein (dieser Zug ist hier inzwischen de facto abgefahren), oder man lässt ihn liberal-wirtschaftsschonend und kontrolliert durchlaufen, dann indes mit einem zwar nicht menschheitsbedrohenden, aber doch empfindlich hohen Zoll an Kranken und Toten.

Wir und die meisten anderen westlichen Länder haben uns weder für das eine noch das andere entscheiden können. Dieses Zaudern rächt sich nun krachend. Kühl-analytische Nutzen-Risiko-Entscheidungen und deren überzeugende Kommunikation lässt unser politisches System offenkundig nur ansatzweise zu (wie seinerzeit im März). Am Ende fehlt doch jene nachhaltige Konsequenz, wie sie in Asien praktiziert wurde. Wir wollen möglichst alles, aber bloß nicht unsere Komfortzone verlassen. Geld soll es richten, nicht Mut und (ja!) auch Opferbereitschaft. So versuchen wir, uns durchzulavieren und durchzukommen, irgendwie. Doch werden wir mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit am Ende den höchsten Preis zahlen: Nämlich neben den horrenden Kosten zusätzlich noch die Toten und die vielfach Geschädigten – zumal sich die "Wunderwaffe Impfstoff" doch mehr und mehr entzaubert und uns erst mittel- bis langfristig Entlastung bringen dürfte, wenn überhaupt.

China und etliche andere Länder Asiens scheinen dies frühzeitig erkannt zu haben. Sie sollten als die großen Gewinner aus der Corona-Pandemie hervorgehen, die schon längt in eine Art Weltkrieg mit völlig anderen Mitteln um die künftige Vorherrschaft gemündet ist. Kühles, analytisches Vorgehen dominiert über Werte und Moral, Wissen und Technologie überstrahlen den Glauben an das vermeintlich Gute. Wir hingegen sind auf dem besten Wege, viele Jahre zurückgeworfen zu werden. Werte und Pluralismus reichen alleine nicht, wenn die Sachlage tatsächlich nur sehr wenige, klare und erfolgversprechende Alternativen zulässt, die es eben nicht gestatten, auf dem Altar der Kompromissgesellschaft zerpflückt zu werden.

Derweil erfahren die Technologie- und Gesundheitsindustrien gerade auch in Asien einen steilen Aufwind. Womöglich droht die Gefahr (oder ist es dann gar die Rettung?) nicht von Amazon, sondern von Alibaba, JD.com und Co. Zumindest ist es aber eine kluge Idee, bei den eigenen Investitionsentscheidungen verstärkt Asien in den Blick zu nehmen.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(21):19-19