Arzneimittel-Preisbindung – das Ende einer Ära

Eine Grabrede


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Hier ruht sie nun also, unsere geliebte, früher so stringente Arzneimittel-Preisbindung, ironischerweise verpackt in ein "Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz". Geboren in den Grundzügen bereits um 1241, erhalten über viele Jahrhunderte und Weltkriege hinweg, nun verstorben anno 2020 nach langer schwerer Krankheit. Aber hören wir nicht ein Tuscheln und leises Lachen auf den hinteren Rängen der Trauergemeinde? Na endlich zeigt sich das wahre Gesicht! Bekanntermaßen wird ansonsten ja nirgendwo so viel gelogen wie auf Beerdigungen und Glückwunschkarten.

Die Verstorbene: Dahingerafft vom Geist Europas, der Freiheit des Geldes, den Interessen der Macht, zermahlen in den Mühlen der Bürokratie und des komplexen Rechtsstaates, orchestriert von Heerscharen teils unkundiger, teils machtloser Politiker. Doch für das große Ganze muss man Opfer bringen! Schauen wir in Europa mutig nach vorne! Wie klein ist doch die Arzneimittel-Preisbindung im Vergleich zu den richtig großen Zielen unseres Landes, unseres Kontinents! Wir besiegen Corona! Wir retten das Klima! Wir retten die Welt! Wir tragen die Demokratie und Freiheit (welche eigentlich noch?) in die Welt! Wir haben Ziele!

Zwar wissen wir eigentlich nicht, wo wir hin wollen, und quirlen uns irgendwie durch eine Pandemie. Doch kennen wir nicht den bekannten Spruch: "Der Weg ist das Ziel"? Da sind ein paar Arzneischächtelchen und ein paar Apotheken nicht mehr als der berühmte "Fliegenschiss"! Zumal irgendwer immer liefern und niemand nun aus Mangel an Arzneimitteln dahinsiechen wird. Bevor wir uns nun also die verdienten Tränen aus dem Gesicht wischen und uns dem reichlichen Leichenschmaus zuwenden, erlauben wir uns noch einen kleinen Rückblick. So viel Ehrlichkeit muss sein, aus Respekt vor der Verstorbenen.

Die erste Krebs-Attacke ereilte unsere so geschätzte Preisbindung bereits 2004, als es vorerst "nur" die apothekenpflichtigen Arzneimittel traf. Seitdem war die Patientin in Dauerbehandlung. Nur mühsam ließ sich die Metastasierung einigermaßen im Zaum halten. Die Patientin verlor einiges Blut, das man durch etwas Kochsalzlösung ersetzen konnte. Sie wurde zudem nach allen Regeln der medizinischen und juristischen Kunst an noch mehr Schläuche, Gerätschaften und Monitore angeschlossen. So konnte man einerseits ihren Bewegungsdrang bremsen, andererseits aber auch ständig über ihren Zustand im Bilde sein. Indes: Selbst über das Ablesen der Monitore gab es Streit unter den anwesenden Experten jeglicher Couleur.

Im Oktober 2016 ereilte die Patientin ein plötzliches Rezidiv. Das Krankenbett war nun – neben wenigen qualifizierten Therapeuten – von Möchtegern-Medizinern, Kurpfuschern, Schlangenbeschwörern und Betriebswirten umringt. Aber wenngleich es medizinisch naheliegend gewesen wäre, konnte sich die versammelte Schar am Ende doch nicht auf eine Infusion wirksamer Antikörper einigen. "Zu teuer!", "Lohnt sich nicht!", "Der Erfolg ist nicht nachhaltig!", waren die Argumente. Zudem stand immer die Gefahr im Raum, dass ein letztendlich maßgeblicher "Chefarzt" in Brüssel die Infusion schlichtweg wieder abstellen lassen würde. Reich war also die Zahl der Argumente, die Diskussionen waren lang. Leider ist währenddessen die Patientin verschieden.

Das Nachbargrab hat man schon ausgehoben, der Grabstein ist bestellt. Als Aufschrift wurde bereits "In memoriam: Fremdbesitzverbot" in Auftrag gegeben. Schauen wir nach vorne! Hier wird dann richtig Geld gemacht ... sorry: Zukunft gestaltet. Freuen wir uns: Bei dieser nächsten Beerdigung hören wir wieder einen ähnlichen Text, sehen aber zahlreiche neue Gesichter. Der Leichenschmaus wird ungleich opulenter ausfallen und die Stimmung gelöst sein – bei denen, die noch am Tisch sitzen. Nur wenige werden die vielen weiteren, stillen Beerdigungsfeiern in etwas größerer Entfernung wahrnehmen.

Bleiben zum Schluss diese Fragen: Darf man bereits heute eine Grabrede über einen Patienten mit minutenlangem Herzstillstand und drohendem Hirntod schreiben – oder sollte man abwarten, bis der endgültige Totenschein ausgestellt ist? Oder dürfen wir gar auf ein medizinisches Wunder hoffen?

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(22):19-19