Corona-Mutationen

Gefangen im molekularen Lotto


Prof. Dr. Reinhard Herzog

"Die dritte Corona-Welle naht" – oder sind wir mittendrin? Und wie viele Wellen kommen noch? Nun sind es Mutationen, die uns auf Trab und den politischen Stresslevel hoch halten. Und das, obwohl sich mit Fortschreiten der Pandemie die "Kraft der Viren" doch insoweit abschwächen sollte, dass im Endzustand eine neue Form harmloser Erkältungsviren resultiert. Als Tiger gestartet, als Bettvorleger geendet, sozusagen. Ende gut, alles gut!?

Allzu viel humanistisches Denken sollte man jedoch von Viren nicht erwarten. Selbst bei einer Letalität von 10% – statt heute und hierzulande rund 1% – bliebe angesichts unserer Bevölkerungsdichte immer noch genug "Virenfutter" übrig. Die biologische Existenz der Menschheit stünde mitnichten auf dem Spiel. Manche Zoonosen vernichten 90% einer Population, ohne dass die Art ausstirbt. Nicht einmal "höhere Organismen" schauen so richtig über den Tellerrand. Der an und für sich schlaue Fuchs frisst die Mäuse, derer er habhaft wird, und vermehrt sich bei gutem Angebot lieber so reichlich, bis die Beute angesichts der vielen Füchse knapp wird – die bekannte Jäger-Beute-Populationsdynamik. Sind wir Menschen so viel weiter? Unser hiesiger Lebensstil erfordert eigentlich drei Erden, und unser ganzes Aufheben um unsere Existenz muss man sich erst einmal leisten können. Erwarten wir also nicht zu viel "Milde" der Natur, sondern halten wir uns an die nüchterne (Molekular-)Statistik.

Das 30.000-Basen-Virus SARS-CoV-2 mutiert mit einer Rate von etwa eins zu einer Million. Bei global über 100 Mio. aktiv Infizierten, einer Viruslast pro Infiziertem im hohen Millionen- bis Milliarden-Bereich sowie einer Replikationszyklus-Dauer von etwa zehn Stunden sind zahlreiche Mutationen das Selbstverständlichste der Welt. Die allermeisten landen freilich im evolutionsbiologischen Papierkorb. Ein wie bei uns lahmes Impftempo mit teilwirksamen Impfstoffen provoziert jedoch geradezu sogenannte Escape-Mutationen unter dem löchrigen Impfschirm hindurch. Es ist eine Frage der Kombinatorik, wann etwas "Sinnvolles" herauskommt, also ein Virus, das sich besser verbreitet – oder eben auch pathogener ist. Für manchen "Fortschritt" braucht es immerhin eine zweistellige Zahl an Punktmutationen, wie bei den Varianten B.1.1.7 und Co.

Dann benötigt man einerseits viele Infizierte, andererseits Zeit, weil Mutationen konsekutiv aufeinander aufbauen. Kommt dabei ein neues "Virus-Upgrade" heraus, das seine Vorgänger ausbreitungskinetisch in den Schatten stellt, ist dessen Siegeszug gar nicht aufzuhalten, solange ein reges Infektionsgeschehen herrscht. Das spricht u.a. für "ZeroCovid"-Strategien, denn ohne Infektionen keine Mutationen. Solange – wie in Asien – noch keine flächendeckend starke Ausbreitung stattgefunden hat, erreicht man das mit tragbarem Aufwand (aber auch auf Dauer?). Wir hier dürften einen ungleich höheren Kraftakt nicht mehr stemmen wollen.

Eine höhere Infektiosität birgt zuerst einmal "nur" die Gefahr höherer Fallzahlen auf Basis der bekannten Letalität. Ab einer gewissen Ausbreitungsfreude stoßen Lockdowns dann an ihre Grenzen. Ab welcher Basisreproduktionszahl R das quasi zwangsläufig aus dem Ruder laufen muss, darüber kann man streiten. Die neuen Mutationen mit R-Werten von gut 4,0 dürften schon nahe dran liegen. Auf Basis dieser erfolgreichen "Upgrades" gibt es jetzt zwei Möglichkeiten: Die Letalität nimmt zu, oder eben ab – fragt sich nur, um wie viel. Beides ist möglich und wohl wie bei einem Münzwurf in einem weiten Letalitätsbereich ähnlich wahrscheinlich.

Ein Schlüssel zur höheren Sterblichkeit ist wieder die Kinetik: Verkürzt sich die Dauer des Replikationszyklus, kommt das Virus schneller voran und "überrennt" förmlich das Immunsystem als die bremsende Kraft jeder Infektion. Schwere Krankheitsverläufe auch unter Jüngeren nehmen zu, ohne dass sich in den Tiefen der enzymatisch gesteuerten "Feinmechanik" des Virus viel ändern muss. Womöglich braucht es dafür nicht allzu viele weitere Mutationen.

Wir sind Hauptdarsteller in einem molekularstatistischen Münzwurf-Experiment. Antizipieren Impfstoffe diese Variationen nicht hinreichend schnell, droht uns eine dystopische (Panik-)"Dauerwelle" – bis auf lange Sicht eine Art "Burgfrieden" mit Corona in Form einer schützenden Grundimmunität einkehrt.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(06):19-19