Verschiebung liegt in der Luft

Wer glaubt noch an den Start des E-Rezepts?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

"Wer nichts weiß, muss alles glauben!" Diese Erkenntnis ist nicht neu und wird unseren Studierenden immer wieder gerne überbracht – mit nicht immer klarem Erfolg. Auf den Dauerbaustellen E-Rezept und Digitalisierung im Gesundheitswesen stellt sich zuspitzend das Problem, dass eine Mischung aus spitzweghaft-kleinlichen Detaildiskussionen und dem Hang zur Verkomplizierung einerseits sowie dem überbordenden Eifer eines scheidenden Gesundheitsministers andererseits dem Wissen bzw. der Gewissheit wenig Raum lässt.

Und rein empirisch lässt sich diese Lücke sobald auch nicht schließen. Die mühsam startenden Erprobungen in Berlin-Brandenburg finden quasi in homöopathischer Dosierung statt. Sozusagen von einem E-Rezept D4 oder gar D6 möchte man auf die Hauptwirkung zurückschließen. Das ist – vorsichtig formuliert – gewagt. Wir reden allein von rund 440 Mio. Kassenrezepten, die schon im nächsten Jahr digital "durchgeschoben" werden sollen, selbst wenn sie erst einmal gar nicht so digital als "Papierrezept 2.0" in den Apotheken aufschlagen dürften, dann nur eben mit QR-Code. Zusammen mit den ebenfalls betroffenen Privatverordnungen sind wir bei einer jährlichen Größenordnung von deutlich über 500 Mio. Rezepten deutschlandweit oder rund 28.000 je Durchschnitts-Apotheke – mithin um die 100 jeden Tag, die akkurat abgearbeitet werden wollen.

Das beinhaltet Hoffnung und Risiko zugleich. Läuft das System flüssig, winken Zeitersparnisse von einigen wenigen Minuten je Rezept, weil viele Prüfvorgänge und Arbeitsschritte so nicht mehr nötig sind. Das gilt erst recht im Zusammenspiel mit Kommissionierautomaten. Unterm Strich könnten da durchaus zwei, drei oder sogar mehr Arbeitsstunden Entlastung pro Tag herausspringen, was schnell auf die Größenordnung einer halben Arbeitsstelle im Handverkauf hinausläuft.

Umgekehrt gilt Entsprechendes aber auch: Entpuppt sich das System als überkompliziert und fehlerbehaftet mit vielen Korrekturschritten, drohen zumindest in der Anfangsphase empfindliche Zusatzbelastungen, die bei knapper Personallage erst einmal abgefedert sein wollen. Spielen uns dann noch Corona oder vielleicht doch einmal wieder eine Grippewelle mitten im Winter einen Streich, wird es schnell eng. Vielleicht kümmert sich der eine oder andere schon einmal um Klappstühle und einen notdürftigen Unterstand, wenn die Kunden dann im Januar vor den Apothekentüren ausharren müssen!? Allein schon deshalb könnte man sich einen besseren Starttermin wünschen als ausgerechnet den 1. Januar. Vergessen wir nicht, dass eine solche Zäsur einige Vorbereitungen erfordert – was sich nun ausgerechnet zum Jahresende mitsamt dem ganzen Feiertagstrubel nochmal zuspitzen würde.

Ja, "würde" – wenn es denn so kommen sollte!

Wer glaubt ernsthaft, dass diese Mini-Erprobungen in Berlin-Brandenburg eine problemlose Einführung auf einen Schlag nahelegen werden? Wer denkt wirklich, dass über 110.000 Kassenarztpraxen, gut 60.000 Zahnärzte und eine hoch vierstellige Zahl an reinen Privatpraxen (die gerne übersehen werden!) zum 1. Januar 2022 alle "ready to go" sind? Die Vorbehalte der Ärzte sind ja noch größer!

Wer erwartet, dass es ab dem 1. Januar 2022 noch einen Gesundheitsminister Jens Spahn geben wird? Das Thema Digitalisierung, nach vielen Jahren erfolglosen Köchelns auf kleiner Flamme, war nicht zuletzt sein persönliches Lieblingsprojekt. Da musste es plötzlich ganz schnell gehen – an vielen Stellen aber eben zu schnell und zu wenig durchdacht. Die bis heute nicht wirklich abschließend befriedigend geklärten Fragen hinsichtlich der "letzten Schritte" auf das Patienten-Smartphone und der Rolle der Versender sind nur zwei Beispiele. Dass die IT-Hardware (Stichwort: Konnektoren und Co.) zum Auslaufmodell erklärt wird, kaum dass man sie installiert hat, ist ein weiteres.

Es spricht einiges dafür, dass ein(e) Nachfolger(in) im Bundesgesundheitsministerium die Reißleine ziehen wird und dass eine Verschiebung des E-Rezepts kommt. Wer die digitale Patientenkommunikation bereits beherrscht, kann dem sowieso entspannt entgegensehen. Die anderen könnten und sollten diese dringend nötige Atempause erhalten.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(15):19-19