Verfassungswidrigkeit der Nachzahlungs- und Erstattungszinsen

Wie die Finanzverwaltung reagiert


Helmut Lehr

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat nun das Bundesfinanzministerium Stellung bezogen. Ab sofort werden Zinsfestsetzungen für Zinszeiträume ab 2019 ausgesetzt. Das gilt allerdings nicht für sämtliche Arten von "Steuerzinsen".

Die gesetzlichen Zinsen für Steuernachzahlungen (6% p.a.) entsprechen schon längst nicht mehr dem Kapitalmarktniveau und stehen deshalb bereits seit Jahren in der Kritik. Das Bundesverfassungsgericht hat zwischenzeitlich mit Beschluss vom 8. Juli 2021 (Aktenzeichen: 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) entschieden, dass die Verzinsung von Steuerzahlungen (und Erstattungen!) für Verzinsungszeiträume seit dem 1. Januar 2014 verfassungswidrig ist. Allerdings darf das bisherige Recht – sprich der Zinssatz von 6% p.a. – für Verzinsungszeiträume bis 31. Dezember 2018 weiter angewendet werden (sog. Fortgeltungsanordnung). Außerdem muss der Gesetzgeber bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungskonforme Neuregelung treffen, die dann rückwirkend für Verzinsungszeiträume ab 2019 gelten soll.

Hinweis: Dass die verfassungswidrige Vorschrift für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 weiter angewendet werden darf, begründet das Bundesverfassungsgericht mit dem Bedürfnis einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung, da die Entscheidung für den Staatshaushalt von nicht unerheblicher Bedeutung sei.

Die aktuelle Lage

Direkt nach Veröffentlichung des Urteils wurden einige Wochen lang gar keine Steuerbescheide erlassen. Nun hat das Bundesfinanzministerium die weitere Vorgehensweise "verfügt" (Schreiben vom 17.9.2021, Aktenzeichen: IV A 3 – S 0338/19/10004 :005):

  • Finanzbehörden und Gerichte dürfen die verfassungswidrigen Normen für Verzinsungszeiträume ab 2019 nicht mehr anwenden. Laufende Verfahren sind auszusetzen und die Vollziehung ist einzustellen.
  • Aktuelle/künftige Steuerbescheide dürfen daher bis auf Weiteres keine Nachzahlungszinsen für Zinszeiträume ab 2019 enthalten. Gleiches gilt für Erstattungszinsen.
  • Im Anschluss an die vom Bundesverfassungsgericht geforderte gesetzliche Neuregelung werden die Zinsfestsetzungen für Verzinsungszeiträume ab 2019 – mit niedrigerem Zinssatz – nachgeholt.
  • Werden Einsprüche für Verzinsungszeiträume bis 2018 jetzt nicht zurückgenommen, weisen die Finanzämter die Rechtsbehelfe insoweit als unbegründet zurück.
  • Vorläufige Zinsfestsetzungen werden bei anstehenden Änderungen oder Berichtigungen für Verzinsungszeiträume bis 2018 für endgültig erklärt.
  • Steuerpflichtige, die für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 Erstattungszinsen (in Höhe von 6%) erhalten haben, brauchen nicht mehr zu fürchten, dass diese Festsetzungen – auch wenn sie nur vorläufig erfolgt sind – nochmals zu ihren Ungunsten geändert werden.

Die Abgabenordnung sieht die 6%ige Verzinsung aber nicht nur für Steuernachzahlungen und -erstattungen vor, sondern auch für Stundungs-, Hinterziehungs-, Prozess- und Aussetzungszinsen.

Da das Bundesverfassungsgericht konkret nur zur Verzinsung von Steuernachzahlungen und -erstattungen Stellung bezogen hat, geht die Finanzverwaltung bis auf Weiteres davon aus, dass die genannten anderen Zinsarten selbst in der Höhe von 6% p.a. rechtens sind. Die Karlsruher Richter haben insoweit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es Steuerpflichtige diesbezüglich durch ihr Verhalten ja selbst in der Hand haben, ob diese Zinsen entstehen oder nicht. Eine klare Entscheidung hierzu wurde allerdings nicht getroffen, weil diese Zinsarten nicht Gegenstand des Verfahrens waren.

Hinweis: Steuerpflichtige sollten mit ihrem steuerlichen Berater besprechen, ob es künftig noch Sinn macht, gegen die Höhe dieser Zinsen Rechtsmittel einzulegen.

Helmut Lehr, Dipl.-Finanzwirt (FH), Steuerberater, 55437 Appenheim

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(20):18-18