Dr. Uwe Weidenauer

In Zeiten akuter Arzneimittel-Lieferengpässe ist ein durchdachtes Lagermanagement von essenzieller Bedeutung. (© AdobeStock/womue)
Die Lieferengpassliste des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) ist ein wertloses Instrument für die Apotheken, da nur freiwillige Meldungen der Pharmaunternehmen erfasst werden und diese in erster Linie Engpässe bei Klinikpräparaten melden. Bevor Arzneimittel auf der BMG-Liste auftauchen, sind die Apotheken über deren Knappheit längst im Bilde. Insofern scheidet dieses Instrument als Frühwarnsystem aus.
Als einstige „Apotheke der Welt“ hatte sich Deutschland dadurch ausgezeichnet, dass man Wirkstoffe entdeckte, erforschte und erfolgreich in die industrielle Massenproduktion überführen konnte. Die Herstellung in den Apotheken wurde zurückgedrängt, und mit der Zeit wandelten sich diese zu klassischen Handelsunternehmen.
In den 1970er-Jahren entstanden die Generika-Anbieter, die sich die preisgünstigen Wirkstoffe auf dem Weltmarkt beschafften und sich allenfalls noch auf die Herstellung der Arzneiformen, in erster Linie aber auf die Vermarktung von Fertigarzneimitteln fokussierten. Der Schwerpunkt dieser Industrie war ein anderer – er lag nicht mehr auf Forschung und Entwicklung, sondern auf Effizienz und Kosteneinsparungen in Beschaffung, Produktion und Logistik sowie einem professionellen Marketing und Vertrieb. Insbesondere aufgrund hoher Kosteneinsparungen und den damit verbundenen niedrigen Abgabepreisen konnten die Generika-Anbieter nach den im Jahr 1989 eingeführten Festbeträgen ihre Marktanteile sukzessive ausbauen.
„In Zeiten akuter Lieferengpässe ist die Lagerreichweite für Apotheken die entscheidende Grundlage für ihr Geschäft! Die volatile Belieferung und reduzierte Lieferfrequenz des Großhandels kann und sollte durch eine Erhöhung derselben ausgeglichen werden. Allerdings sollte unbedingt gegengerechnet werden, wie viel Kapital ein gut gefülltes Lager bindet und welche Zusatzkosten dadurch entstehen.“
Mit den 2007 eingeführten Rabattverträgen nahm die Wettbewerbsintensität nochmal massiv zu. Damit Hand in Hand ging eine Marktkonsolidierung und -konzentration. Der Druck, in diesem mittlerweile margenschwachen Geschäft zusätzliche Effizienzpotenziale zu erschließen, nahm erheblich zu und beförderte die Verlagerung der Lieferketten in Niedriglohnländer. Auch dort kam es zu einer Konzentration der Produktion. Aktuell liegt die Versorgung mit nahezu allen generikafähigen Wirkstoffen in den Händen der entsprechenden Hersteller: Rund 80 % des Volumens entfallen auf Generika, wobei diese nicht einmal 20 % der GKV-Arzneimittelausgaben ausmachen!
Veränderte Spielregeln für den Großhandel
Der Arzneimittel-Großhandel leidet schon seit Jahren unter niedrigen Margen und kann Kostensteigerungen, wie sie durch die erhöhten Energie- und Lohnkosten entstanden sind, nicht kompensieren. Die Auswirkungen bekamen die Apotheken in den vergangenen Monaten deutlich zu spüren: zum einen in Form von zusätzlichen Gebühren und reduzierten Rabatten, zum anderen durch Einsparungen oder gar Streichungen bei den Liefertouren.
Das hat natürlich für Verärgerung gesorgt. Unabhängig davon sind und bleiben die pharmazeutischen Großhändler die wichtigsten Partner der Apotheken im Tagesgeschäft. Deshalb ist es grundsätzlich wichtig, die Prozesse und Abläufe in den hoch automatisierten Großhandlungen zu verstehen. Die mit dem MSV 3-Bestellsystem abrufbaren Lagerbestände werden in der Regel am Arbeitstag physisch in das Lager gebracht und am Abend elektronisch ins Lager eingebucht. Allerdings sind diese Bestände mitunter erst in den späten Abendstunden (ab ca. 21 Uhr) für die Apotheken sichtbar. Somit empfiehlt es sich, Defektenabfragen und Bestellungen entweder spät am Abend – z. B. im Notdienst oder einer nächtlichen Sonderschicht – oder gleich frühmorgens vor Öffnung der Apotheke zu machen.
Häufig sind die Bestellmengen durch die Großhändler elektronisch limitiert, um eine gewissen Verteilungsgerechtigkeit unter den Apotheken sicherzustellen. Sofern das der Fall ist, empfiehlt sich in jedem Fall eine separate Bestellung für einzelne Apotheken innerhalb von Filialverbünden. Gibt es keine Mengenbegrenzung, dann empfiehlt sich eine ausreichende Bevorratung. Je nach Lagerfläche und Einkaufspreis kann es in der aktuellen Situation durchaus Sinn ergeben, eine statistische Lagerreichweite von einem bis vier Quartalen zu bestellen.
Sinnvolle Lagergestaltung in Zeiten akuter Engpässe
Anhand der Abverkaufszahlen lassen sich durchschnittliche Lagerreichweiten berechnen – eine wichtige Kennzahl in der Betriebswirtschaft. In Zeiten akuter Lieferengpässe ist die Lagerreichweite für Apotheken sogar die entscheidende Grundlage für ihr Geschäft! Die volatile Belieferung und reduzierte Lieferfrequenz des Großhandels kann und sollte von den Apotheken durch eine Erhöhung der durchschnittlichen Lagerreichweite ausgeglichen werden. Im Falle von versorgungskritischen Engpass-Arzneimitteln ist eine möglichst langfristige Bevorratung sogar essenziell geworden. Zudem sollte die Nachbestellung niemals erst bei oder kurz vor Erreichen des Lagerbestands null, sondern wesentlich früher erfolgen. Dieser Sicherheitsbestand muss individuell beurteilt werden und sollte auch im Warenwirtschaftssystem eingepflegt werden.
Insofern ist es grundsätzlich empfehlenswert – sofern verfügbar –, große Lagerbestände anzulegen. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass ein gut gefülltes Lager viel Kapital bindet und schnell zu Liquiditäts-Engpässen führen kann. Fehlt Liquidität, muss das Geld in Form eines Betriebsmittel- oder sogar Kontokorrentkredits aufgenommen werden, was bei den aktuellen Zinssätzen am Markt (4 % bis 8 %) hohe Zusatzkosten verursacht.
Lagerhaltungskosten lassen sich in fixe und variable Kosten unterteilen. Zu ersteren werden Abschreibungen, Personalkosten, Versicherungen und eventuell zusätzlich auftretende Mietkosten gezählt. Letztere umfassen Risikokosten, Mehrarbeit für die Lagerbewirtschaftung und unter Umständen auch zusätzliche Transportkosten – speziell in Apothekenverbünden.
Erhöhte Lagerhaltungskosten unbedingt gegenrechnen!
Diese auf den ersten Blick nicht immer offensichtlichen Mehrkosten sollten Sie als Apothekeninhaber oder Filialleiter unbedingt im Blick behalten und zumindest grob durchkalkulieren (verschiedene Berechnungsbeispiele siehe Tabelle 1). Wichtig ist auch zu prüfen, ob die Inhaltsversicherung die zusätzlichen Lagerbestände deckt. Der Personalmehraufwand sollte zumindest kalkulatorisch in die Berechnung einbezogen werden, auch wenn es in der Regel nicht zu Neueinstellungen allein aufgrund eines aufwändigeren Lagermanagements kommen wird. Überdies sollte bedacht werden, dass die coronabedingten erleichterten Austauschmöglichkeiten irgendwann wieder entfallen werden, was zu unerwünschten Abschreibungen führen kann.
Zusätzlicher Wert Warenlager |
Annahme I: 25.000 € |
Annahme II: 25.000 € |
Annahme III: 50.000 € |
Annahme IV: 50.000 € |
Zinskosten (4 % oder 8 %) |
4 %: 1.000 € |
8 %: 2.000 € |
4 %: 2.000 € |
8 %: 4.000 € |
Annahme Mehrkosten für Versicherung |
100 € |
100 € |
150 € |
150 € |
Personalmehraufwand |
1.000 € |
1.000 € |
2.000 € |
2.000 € |
Transportkosten |
1.200 € |
1.200 € |
2.400 € |
2.400 € |
Abschreibungen |
300 € |
500 € |
750 € |
750 € |
Jährliche, zusätzliche |
3.600 € |
3.800 € |
7.300 € |
9.300 € |
Vor allem die Zinsen belasten das Ergebnis der Apotheke, aber auch andere Kosten der Warenlager-Bewirtschaftung dürfen nicht unterschätzt werden. Faktisch fallen diese Kosten unter das Engpass-Management, das laut aktuellem Gesetzesentwurf des BMG mit dürren 50 Cent honoriert werden soll. Das wird den mit dem hohen Mehraufwand verbundenen Zusatzkosten freilich in keiner Weise gerecht. Letztlich liegt die Entscheidung bei der Apothekenleitung, wie weit es wirtschaftlich vertretbar ist, die Lagerbestände aufgrund von Lieferengpässen zu erhöhen.
Dr. Uwe Weidenauer, Apothekeninhaber, Geschäftsführer Gesundheit247 GmbH, 69469 Weinheim, E-Mail: awa@gesundheit247.academy
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2023; 48(07):6-6