Philip Christmann

(AdobeStock_kaycoo)
Den niedrigschwelligen Zugang von Apotheken für mehr Prävention zu nutzen, um damit die chronisch überlaufenen Hausarztpraxen zu entlasten, das kann sich die ABDA ebenso vorstellen wie namhafte Gesundheitspolitiker. So hat die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Tanja Machalet von der SPD, erst kürzlich im „Tagesspiegel Background“ betont, dass Apotheken künftig eine viel größere Rolle in der Primärversorgung spielen sollten. Ganz ähnlich sieht es NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, der gegenüber der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ erklärt hatte: „Wir sollten den Heilberuf des Apothekers generell breiter denken.“
So funktioniert das britische Pharmacy-First-Modell
In diesem Kontext wird Großbritannien mit seinem „Pharmacy-First-Konzept“ gerne als Vorreiter genannt. Apotheken dürfen Patienten dort bei sieben leichten Erkrankungen selbst behandeln: Bei Nasennebenhöhlenentzündung, Hals- oder Ohrenschmerzen, infizierten Insektenstichen, Hautausschlag (Impetigo), Gürtelrose und unkomplizierten Harnwegsinfektionen bei unter 65-jährigen Frauen dürfen sie Patienten beraten, und auch Rx-Arzneimittel wie Antibiotika oder Virostatika ohne ärztliches Rezept abgeben. Für die Behandlungen bekommen sie eine entsprechende Vergütung.
Für diese Krankheiten wurden klar definierte Behandlungspläne aufgestellt. Dazu wurden Experten verschiedener Disziplinen eingebunden – darunter praktizierende Hausärzte, Apotheker und Spezialisten für Antibiotika-Resistenzen.
Durch die Behandlungspläne soll sichergestellt werden, dass die Behandlung in Apotheken der Versorgung, wie sie die Patienten in der hausärztlichen Praxis erhalten würden, qualitativ ebenso entsprechen wie den aktuellen nationalen Leitlinien.
Apotheker, die an dem Programm teilnehmen, müssen über separate Sprechzimmer für Patientengespräche verfügen und eine fünfjährige Ausbildung absolvieren, um die entsprechende diagnostische und therapeutische Kompetenz aufzubauen.
Ärztevorbehalt setzt enge rechtliche Grenzen
Auch wenn der britische NHS (National Health Service) hierzulande eher als abschreckendes Beispiel gilt, so wurde eine Adaption des Pharmacy-First-Modells auf den deutschen Gesundheitsmarkt durchaus ernsthaft diskutiert. Doch was würde das konkret für die Apotheken bedeuten? Welcher Mehraufwand würde auf sie zukommen? Und wie müsste ein sicherer rechtlicher Rahmen aussehen?
Grundsätzlich dürfen hierzulande nur Ärzte und Heilpraktiker die Heilkunde – darunter fällt jede gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten – ausüben. Die Einzelheiten sind im ärztlichen Berufsrecht (Bundesärzteordnung und Approbationsordnung für Ärzte) sowie im Heilpraktikergesetz klar geregelt. Die Kernaufgabe von Apothekern hingegen ist laut § 1 Apothekengesetz „die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln“. Zur Ausübung der Heilkunde sind Apotheker laut Berufsrecht nicht befugt. Für Diagnostik und Therapie gilt zunächst der grundsätzliche Ärztevorbehalt.
In der Praxis hat es sich aber so eingespielt, dass Apotheker bei einfachen Erkrankungen eigenständig nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel an ihre Kunden abgeben. Grundlage der Entscheidung, welches OTC-Präparat ein Apotheker bei welchen Symptomen oder Beschwerden abgibt, ist das Wissen in klinischer Pharmakologie, das er im Studium erworben hat.
Gefährliche Grauzone
Rechtlich bewegt sich der Apotheker damit in einer Grauzone, da die Behandlung von Erkrankungen mittels Medikamentengabe streng genommen eine heilkundliche Tätigkeit darstellt. In der Rechtsprechung ist aber anerkannt, dass Tätigkeiten eines Apothekers wie zum Beispiel Blutdruckmessen, Blutzuckertests und Knochendichtemessung keine heilkundlichen Tätigkeiten darstellen (vgl. etwa OLG Düsseldorf, Urteil vom 19.02.2002 - I-20 U 127/01). Solange das Handeln des Apothekers „keine Gefährdung des Patienten bewirkt“ und keine ärztlichen Kenntnisse erfordert, ist dies von der Berufsfreiheit gedeckt (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 19.05.2020 – 20 U 127/19). Dem Autor sind bisher auch keine Fälle bekannt, in denen Apothekern im Zusammenhang mit der Abgabe von OTC-Arzneimitteln nach Beratung eine unerlaubte Ausübung der Heilkunde vorgeworfen worden wäre. Offensichtlich wird die derzeitig gängige Praxis von allen Beteiligten akzeptiert.
Bedenkliches Beispiel aus der Praxis
Es gilt aber zu bedenken, dass diese eingeübte Praxis im Einzelfall mit erheblichen Risiken verbunden sein kann. Das nachfolgende Beispiel soll das veranschaulichen:
Ein Mann mit grippalen Symptomen und erhöhter Temperatur bittet seinen Apotheker um Rat. Dieser fragt ihn, wie lange die Symptome bestehen und ob er Schmerzen hat und rät ihm schließlich zu einem Hustenlöser und Fiebersenker. Sollten die Symptome nach drei Tagen nicht besser geworden sein, möge er sich bei seinem Hausarzt vorstellen. Der Mann befolgt den Rat und nimmt die Arzneimittel in den kommenden Tagen ein. Am vierten Tag sucht er mit nunmehr deutlich verschlimmerten Symptomen seinen Hausarzt auf. Nach eingehender Diagnostik zeigt sich, dass der Mann, der kürzlich eine Afrikareise unternommen hatte, an einem tropischen Fieber leidet. In der Folge erkrankt der Mann schwer. Bei rechtzeitiger Diagnostik hätte das Fieber umgehend und mit einer wesentlich besseren Erfolgsaussicht behandelt werden können.
Das Beispiel veranschaulicht die rechtliche Grauzone, in der sich Apotheker jetzt schon permanent bewegen. Rechtliche Standards rund um die Abgabe von OTC-Präparaten, Haftungsfragen sowie die Aufklärung und Dokumentation sind – anders als bei den Ärzten – überhaupt nicht geregelt. Insofern muss man nüchtern konstatieren, dass die derzeitige rechtliche Lage das Prädikat „ungeklärt“ verdient.
Blick in die Zukunft
Wie müsste aber ein verlässlicher rechtlicher Rahmen für den Fall aussehen, wenn Apotheken – wie vielfach gefordert – in Zukunft tatsächlich stärker als bisher in die medizinische Primärversorgung eingebunden werden sollen?
- Zuerst müssten die Rahmenbedingungen für eine Ausweitung der apothekerlichen Kompetenzen präzise definiert werden: Für welche Krankheiten soll der ärztliche Diagnosevorbehalt fallen? Welche Arzneimittel sollen Apotheker eigenständig ohne ärztliche Rücksprache abgeben dürfen?
- Sodann bräuchte es eine gesetzliche Regelung, die Apothekern für die o. g. Fälle die Abgabe von Rx-Medikamenten ohne Rezept und vorherigen Arztkontakt ausdrücklich gestattet.
- Ebenso müssten die Voraussetzungen festgeschrieben werden, unter denen ein Apotheker diese erweiterten Befugnisse ausüben darf. Dazu zählen unter anderem verpflichtende Weiterbildungen in Diagnostik und Therapie inklusive Haftungsfragen sowie Anforderungen an Dokumentation und Aufklärung.
- Selbstverständlich bräuchte es eine verbindliche Regelung für die Vergütung dieser neuen zusätzlichen Leistungen.
- De facto müsste für eine solche Ausweitung der Befugnisse von Apotheken in der Primärversorgung ein „dickes Brett gebohrt werden“. Das gilt sowohl im politischen als auch im rechtlichen Sinn. Notwendig wären Anpassungen in einer Vielzahl rechtlicher Regelungen wie – um nur einige zu nennen – dem Heilpraktikergesetz, Apothekengesetz und selbst dem BGB (§§ 631 a bis 631 h).
- Außerdem bräuchte es – wie in England – einen frühen und engen Schulterschluss mit den Ärzteverbänden. Ein Alleingang über die Köpfe der Ärzte hinweg hätte wahrscheinlich wenig Aussicht auf Erfolg.
Damit stellt sich abschließend die Frage, ob der durchaus überlegenswerte Ansatz, Apotheken stärker in die Primärversorgung einzubinden, nach Abwägen aller Pro & Contra immer noch so charmant ist wie auf den ersten Blick.
Das Modell könnte zwar einen echten Mehrwert für die Patienten bringen – es wäre aber mit einem hohen Aufwand für alle Beteiligten verbunden: Die Apotheker müssten wieder auf die Schulbank, die Ärzte über ihren Schatten springen und die Politik einige Extrameilen gehen, um sichere rechtliche Leitplanken zu schaffen.
Philip Christmann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, 14057 Berlin, www.christmann-law.de
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2025; 50(19):14-14